Autor: Manfred Stockmann
Viele neue Herausforderungen dringen in unser Leben und erobern unsere Geschäfte. Meist können wir uns die Geschwindigkeit und das Ausmaß von dem, was da in kurzer Zeit bereits unser Arbeits- und Konsumentenleben gewaltig verändern soll, kaum wirklich vorstellen. Doch es liegt an uns, mutig und zuversichtlich die Herausforderungen anzunehmen.
Dass die Digitalisierung kein IT-Projekt ist, hat sich schon rumgesprochen. Doch warum agieren dann viele immer noch so, als würde die Einführung von Systemen zur Service-Automation, der Einsatz von KI und die Zementierung bestehender Prozesse die Zukunft sichern? Etliche Unternehmen sind gerade dabei, ihre Zukunft zu verspielen. Sie stecken alle Energie und Ressourcen in die Weiterentwicklung und Optimierung des Bestehenden, anstatt auch „neu zu denken“.
Ihre Kunden wollen keine Beziehung mit Ihrem Contact Center.
Sie wollen schnelle, unkomplizierte Lösungen.
Im Heute optimieren und es gleichzeitig abschaffen
Das moderne Zauberwort heißt „Ambidextrie“ und bezieht sich eigentlich auf die Fähigkeit gleichermaßen die linke wie rechte Hand zu verwenden. Im unternehmerischen Kontext zielt es u.a. darauf ab, bereits neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, ohne dabei das bestehende außer Acht zu lassen. Schließlich verdient sich daraus heute noch das Geld. Nachlässig wäre es allerdings, darauf zu vertrauen, dass die reine Weiterentwicklung des Bestehenden die Zukunftsfähigkeit gewährleistet.
Da zeigt sich die demografische Entwicklung durch Fachkräftemangel auch bei den Servicecentern. Dennoch dominiert operatives Stellenfüllen anstatt integrierter Strategien. Viel zu häufig ist noch gewachsenes Silodenken vorherrschend. Die Servicestrategie ist, sofern es überhaupt eine klar definierte gibt, nicht Teil der Markt-, Produkt- und Vertriebsstrategie. Marketing und PR kommunizieren eine idealisierte Leistungswelt, die in der Umsetzung selten angekommen ist. Das Festhalten an Bestehendem wird durch kosmetische Maßnahmen mit teils „hippen“ Anstrich für den äußeren Anschein verkleidet. Man bemerkt einen Mangel, kann ihn nicht greifen und ignoriert ihn. So bleibt es intern beim alten Denken, Handeln und Entscheiden.
Was gerade passiert
Unzweifelhaft hat unsere Fahrt in die Zukunft an Geschwindigkeit zugenommen. Was sollten wir verstehen und wie hilft uns die Reiskornparabel dabei, uns diese exponentielle Entwicklung vorstellen zu können?
Es ist die Geschichte von Zeta, dem Erfinder des Schachspiels und seine „bescheidende“ Bitte um Entlohnung in Reiskörnern. Sie erinnern sich? Ein Reiskorn aufs erste Feld, zwei Reiskörner aufs zweite und dann für jedes weitere Feld immer die doppelte Anzahl des vorherigen Feldes (mathematisch ausgedrückt 264-1). Ein flüchtiger Blick auf die erste Reihe A1=1, A2=2, A3=4, A4=8, A5=16, A6=32, A7=64, A8=128 (insgesamt 255 Reiskörner) lässt uns, genauso wie den indischen Kaiser Sheram, das Ausmaß überhaupt nicht erahnen.
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Nehmen wir nun an, das erste Feld A1 wäre das Jahr 1968/1969. Damals kamen die ersten wirtschaftlich massentauglichen Computer auf den Markt, wie der erste Desktop-Computer von Hewlett Packard der HP 9100A oder der Kleincomputer Nixdorf 820. (Auch kam „2001: A Space Odyssey“ in die Kinos, in dem der Computer HAL 9000 eine zentrale Rolle spielt. ??? Na gut, dieses Ereignis hat hierfür nun überhaupt keine Bedeutung.) Und wir nehmen jedes Feld als einen Zwei-Jahres-Zeitraum, also grob vereinfacht die Spanne, in der sich Rechnerleistung jeweils verdoppelt. |
Welche voluminöse Entwicklungsmacht in den kommenden sechs Jahren auf diesem Schachbrett wirklich auf uns zukommt, dem empfehle ich zur Veranschaulichung das kurze Video auf YouTube (https://youtu.be/KnQZ3Mg6upg).
Geschwindigkeit ist nicht gleich Wandel.
Es braucht jedoch den Wandel,
um mit der Geschwindigkeit klar zu kommen.
Und dabei geht Vieles von dem, was wir heute mit der Digitalisierung verbinden, auf Ideen und Gedankenspiele zurück, die teilweise schon über 100 Jahre alt sind. Doch erst heute lassen sich – eben dank der technologischen Möglichkeiten – diese Ideen verwirklichen.
Disruption in der Geschichte
Auch wer bisher noch erfolgreich ist, kann sich nicht darauf ausruhen. Das ist bekannt, doch das WIE entscheidet über den Erfolg der Zukunft.
Woher kommen Erfindungen und größere Umwälzungen? Selten aus dem operativen Anwendungsumfeld. Meist wird Erfahrung und Vertrauen in eine Sache sogar verhindern, dass es zu den notwendigen Entwicklungsschritten kommt.
Die Kutscher haben nicht das Automobil erfunden,
genauso wenig wie die Eisblockverkäufer den Kühlschrank und
auch das elektrische Licht entstand nicht durch die Weiterentwicklung der Kerze.
Dazu auch zwei Beispiele aus dem Sport: Im Hochsprung löste der Fosbury-Flop die bis dahin praktizierte Straddle-Technik ab. Auch mit noch so viel Training konnte diese nicht mehr optimiert werden, um die neuen Höhen zu erreichen.
Im Skispringen galt viele Jahre der Fisch-Stil (parallele Skihaltung) als die optimale Sprungtechnik, bis Ende der 1980er Jahre der schwedische Skispringer Jan Boklöv mit dem V-Stil kam und gänzlich neue Weiten ermöglichte. Dabei resultierte die Technik ursprünglich aus einem Sprungfehler.
Diese Beispiele zeigen, dass es nicht ausreicht, nur Bestehendes zu optimieren. Schaffen Sie sich und Ihren Mitarbeitern den Raum und die Strukturen, auch darüber hinaus Neues zu denken. Das geht nicht von heute auf morgen, doch mit ein paar passenden Methoden lässt sich das trainieren. Geduld, Disziplin zum anders sein, Kreativität und Ausdauer werden sich auszahlen.
Was hat Popcorn mit unserer Zukunft zu tun?
Stellen Sie sich vor, Sie machen in der Mitarbeiterküche Popcorn. Dazu brauchen Sie einen Topf, etwas Öl, Popcorn-Mais und einen Kocher. Nun haben Sie alles in den Topf gegeben und den Kocher aufgedreht. Einige Kollegen stehen um Sie herum und beobachten den Topf. Sie warten. 15 Sekunden, nichts passiert. 30 Sekunden, noch immer nichts. Nach einer Minute gehen ihre Kollegen, denn wenn nach 60 Sekunden nichts passiert ist, dann passiert auch in den nächsten 60 Sekunden nichts mehr.
Diese Einstellung lässt Menschen vorzeitig aufgeben und beendet Entwicklungen, da sie offensichtlich kein Ergebnis bringen. Ebenso tun sich viele Menschen schwer damit, zu verstehen, dass sich in wenigen Jahren viele Geschäftsmodelle fast schlagartig verändern werden.
Was passiert also in unserem Kochtopf, wenn die Temperatur bei 163 -168 Grad Celsius angekommen ist? Dann verändert sich in wenigen Sekunden der gesamte Zustand in diesem Topf. Gerade eben waren die Maiskörner noch klar erkennbar, doch nun rumst und knallt es und wir haben Popcorn.
Ebenso werden Technologien, wie z.B. Voice-Bots und Sprachassistenten, die gerade noch belächelt und etwas unbeholfen waren, bereits morgen als empathisch agierende und lernfähige Sprachapplikationen viele Lebensbereiche erobern. Siri, Alexa etc. stehen erst am Anfang und beginnen bereits den Kundenservice, wie wir ihn heute denken und gestalten, komplett über den Haufen zu werfen. Was Sie dann – eigentlich schon jetzt brauchen, sind Menschen, mit denen Sie diese Szenarien entwickeln. Und dazu brauchen Sie eine andere Art der Führung und ein agiles Organisationsverständnis. Denn eines ist gewiss: Irgendjemand wird es tun – ohne dass Sie es vorher mitbekommen haben.
Frage zur Grafik: Wo sind Ihre Mitarbeiter zuzuordnen?
Die Bots des Kunden
Vermutlich werden Firmen wie Google, Amazon, Apple etc. dem Kunden bereits schneller intelligente und selbständig operierende Assistenten an die Hand geben, als Unternehmen dafür im Kundenservice gerüstet sind. Dann erhält der Servicemitarbeiter einen Anruf, Chat, Mail von einem Kunden-Bot, der Termine abspricht oder Produktfragen klärt.
Der Service-Roboter
Heute sind autonom agierende Roboter noch Prototypen, deren Kosten siebenstellig sind. Doch bereits 2025 soll es soweit sein: Ein Roboter, der 80% aller im Haushalt anfallenden Arbeiten selbständig erledigen kann und mittels KI lernfähig ist. Und das zum Preis von 20.000 $ oder 199 $ monatlicher Leasingrate. Laut einer Umfrage würden 70% der Amerikaner diesen, der Anschaffung eines Zweitwagens vorziehen.
Das Paradox der „propellierenden Komplexität“
„Wir leben in einer Gesellschaft der propellierenden Komplexität.“
(Stefan Jansen)
Der Wirtschaftswissenschaftler Stefan Jansen beschreibt ein Paradox, indem die Reduzierung der Komplexität bei einer Person zu einer Erhöhung der Komplexität bei einer anderen Person führt, ähnlich einem Propeller. Für ihn beflügelt sich die Gesellschaft gerade dabei in ihrer Komplexität, durch ihre Versuche der Komplexitätsreduktion. So reduziert sich Komplexität auf Seiten des Konsumenten (Service muss einfach sein!) und im Idealfall auch bei den Mitarbeitern (Schnelle, übersichtliche, relevante Informationen und performante Systeme). In der Architektur und Vernetzung steigt die Komplexität dagegen an.
Wir können komplexe Probleme aber nicht mit analytischem Denken und in funktional ausgerichteten Silos lösen. Wir brauchen die Vernetzung. Trotz aller Spezialisierung brauchen wir hierfür Generalisten als Brückenbauer. Auch passen klassische Projekte nicht mehr, es braucht neue Ansätze. Beispiele gibt es, doch diese sind nicht 1:1 kopierbar, sie müssen in der Organisation mit den Mitarbeitern entwickelt werden. Nur so entsteht eine neue; tragfähige und von allen gelebte Kultur. Daher sind auch klassische Beratungsansätze mit „Wir zeigen Ihnen wie’s geht. Wir machen das für Sie.“ am Ende. Sie brauchen den Transformationsbegleiter, der Sie methodisch, moderierend im Prozess und nicht in der Lösung unterstützt. Die Lösung kommt aus Ihrer Mannschaft.
Vom Ende des klassischen Effizienzdenkens
Bisher haben wir unsere Unternehmensstrukturen nach dem Denkdiktat der Effizienz ausgerichtet. Der Blick richtete sich nach innen. Damit kommen wir in Zukunft nicht mehr weiter. Viele der Kennzahlen helfen uns vielleicht; selbstgesteckte Ziele zu erreichen, doch Sie bringen uns nicht zu den relevanten Ergebnissen.
Viele Projekte schaffen die vollständige Zielerreichung
bei absoluter Ergebnisverfehlung.
Die Qualität und Wirksamkeit von Service definiert sich in neuen Dimensionen und wirtschaftlichen Größen.
Ein Ausblick
Wie wäre es, wenn Sie ab jetzt in sieben Schritten über zwölf Monate die Basis legen könnten, Ihr Organisationsmodell zukunftsorientiert auszurichten, dabei attraktivere Arbeitsplätze zu schaffen und einen begeisternden Kundenservice aufzubauen?
Einfach so? Nein. Sie brauchen Mut, Elan, Selbstvertrauen und die Bereitschaft so manches neu zu denken und handzuhaben. Sie verlassen schrittweise Control & Command und begeben sich zuerst einmal auf unbekanntes Terrain. Neugier ist hierfür eine gute Voraussetzung.
Einen Einblick in dieses WIE und eine Entmystifizierung der Begriffe „agil“, „lean“ und „disruptiv“ sowie eine Antwort auf die entscheidende Frage, „Wie entsteht ein Mosaik?“ gebe ich Ihnen am 6. November in Hanau bei meinem interaktiven Vortrag „Mythos Service Center“. Denn eines ist sicher: 2025 braucht es so keiner mehr. Weitere Infos und Downloads finden Sie ab Mitte Oktober unter www.fit-for-service.eu
Bild- und Quellennachweis:
- Header Mythos Service Center: depositphotos.com
- Schachbrett Grafik © C.M.B.S.
- Popcorn-Parabel nach Lars Thomsen, future matters
- Grafik Kelley’s Five Types of Follower, Grafik+Übersetzung durch C.M.B.S.
- Grafik „Problem-Lösung“ von Conny Dethloff
Manfred Stockmann
Der ehemalige BW-Offizier und langjährige Vorstand des CCV und ECCCO arbeitet als Unternehmer, Change-Begleiter, Motivator, Netzwerker, Autor und Redner.